Hubschrauber*

Marie und Jan, seit zwei gemütlichen, seltsamen Jahren ein Paar, waren früh am Bernsteinsee angekommen. Hand in Hand, ein ruhiger Pfingstmorgen, die leichte Bewölkung hielt Marie nicht davon ab, ‚oben ohne’ gleich in Schönheitsschlaf zu fallen, während Jan schon mal die Zeitung auspackte und sie, ohne zu lesen, auf seinen Bauch legte. Jan hatte einen süßen Bauch. Marie war sehr gut gebaut. Vor den Kiefern erstreckte sich der Strand in der tollen Farbe von Bio-Vanilleeis, zehn Uhr, noch nicht heiß, der aufklarende Himmel ein sandloses Handtuch, dachte Jan …

Marie träumte: Zwischen duftenden Fronthelden eingezwängt Vanilla Sky anschauen, dazu leckere Pfannkuchen, wobei sie den Soldaten erklärte, dass nur Nicht-Berliner Berliner zu Pfannkuchen sagen und dafür, und weil sie so gut gebaut war, schenkte ihr der schönste Soldat seinen Hund, einen Golden Retriever mit dem Gesicht von Nicolas Cage. Schleck, schleck, machte der Hund an ihren Oberschenkeln. Als sie aufwachte, erzählte sie Jan davon, schleck, schleck, Jan trank Wodka-Cola und kuckte komisch, wie immer, wenn sie ihm von ihren Träumen erzählte. Er schwieg und kuckte so, wie er gekuckt hatte, als Maries Mutter, die er noch nicht oft getroffen hatte, in seinem Garten Steine und Federn für Traumfänger sammelte. Er kuckte Marie so ins Gesicht, wie Marie auf seinen Pimmel zu kucken glaubte, wenn sie ihn im Stehen pinkelnd erwischte. Irgendwie blöd, dachte sie. Dieses Wochenende war doch Drehpause, sie konnte locker sein und schmiegte sich an Jans süßen Bauch. Das ging gut. Jetzt kuckte keiner mehr komisch, Marie fühlte sich gut und gut gebaut und erwachsen. Jan hingegen war unruhig und machte hektische Bewegungen mit der Hand.

Was machst du?

Den Sand vom Handtuch.

Aber da kommt doch gleich wieder neuer Sand drauf …

Dann mach ich ihn wieder runter.

Ist doch blöd.

Existenzkampf.

Warum?

Marie hatte die geniale bis nervtötende Angewohnheit, diese Kinderfrage zu stellen. Warum? Jan, der die Zeitung mit der linken Hand über seinen Kopf hielt, um sich vor der heißer werdenden Sonne zu schützen, kannte das. Wenn er schwieg, würde Marie nicht auf Antwort bestehen, nur erwarten, dass er innerlich eingesehen hatte, dass es maßlos übertrieben und blöde war, seine Sand-Phobie als natürlichen Teil des survival of the fittest darzustellen. Wiewohl nicht im engeren Sinne glücklich, war Jan in diesem Moment doch fröhlich, oder müde, er hatte das Wochenende frei, musste nicht in die Agentur. Vorsichtig bürstete er den Sand vom Handtuch und hielt einfach die Klappe. Marie schmiegte sich siegreich noch fester an ihn. Wie angenehm, Jan konnte das, Zuneigung haben und feste Gefühlskomplexe, die vor allem mit haptischen und olfaktorischen Systemen zusammenhingen. (Sand plus Sonnencreme an Haut war ganz weit unten auf der Skala, logisch, Maries Körper an seinem war weit oben.) Marie fühlte sich wie eine süße, aufgeschnittene Erdbeere an, wo man mit der Fingerspitze ans innere Fruchtfleisch fasst; allerdings fand Jan es brutal, Menschen mit Obst zu vergleichen, ganz einfach, weil Obst keine Kraft hat, beziehungsweise falls doch, dann eine vom Menschen aus gesehen sehr seltsameoder würdest Du freiwillig an einem Baum wachsen wollen?

 Marie, bisschen praktisch veranlagt, konnte nichts Schlimmes am Obstsein finden, obwohl, meinte sie dann, laufen wäre gut, das müsste das Obst dürfen, damit es sich den Mund aussuchen kann.

Jan lachte. Marie zog die Augenbrauen hoch, weil sie Jan noch nie so lachen gehört hatte, hell und heftig. Er blickte über die rechte Schulter, und da merkte Marie, dass sie nicht sein Lachen, sondern Kindergeschrei gehört hatte.

Zwischen den Kiefern tauchten zwei Jungs in gelben Badehosen auf. Sie rannten ziemlich laut um die Wette. Immer, wenn der eine ein Stück vorgekommen war, hielt der andere ihn zurück. Die Jungs hatten dunkle Locken und hübsche identische Gesichter, es waren Zwillinge, die sich stritten, wer von ihnen zuerst am Wasser sein durfte. Dahinter watschelte ein untersetzter Mann, anscheinend ihr Vater, der sich mit einer großen blauen Kühltasche, einem roten Sonnenschirm und seinem Bauch abschleppte. Er rief beruhigend ihre Namen.

Micha, Marko, ihr müsst euch den See teilen!

Jan nahm einen Schluck Wodka-Cola und runzelte die Stirn, ihr müsst euch den See vor allem mit uns teilen, murmelte er. Er sah sauer aus und Marie erzählte lieber schnell seine Lieblingsgeschichte, wie ihre Schauspielerfreundinnen Lara und Johanna diesen Typen kennengelernt hatten, der Typ auf Johanna scharf war (die Schöne), aber dann Lara genommen hatte (die Versaute), alles nur, um Johanna zu kriegen. Lara tappte voll in die Falle, der Typ hatte seinen Spaß mit ihr, weil sie echt versaut war, die machte echt alles, und er machte dann auch alles mit ihr, sie fand es super geil und erzählte Johanna brühwarm davon, wie oft und wie lang und was und wie gut – klar wollte Johanna ihn dann auch, so dass sie sich den Typen schnappte.

Jans Gesicht hatte sich nicht aufgehellt. Er sagte auch nicht, wie sonst an dieser Stelle, seinen Lieblingssatz: perfektes Beispiel für soziale Manipulation (genaugenommen sagte er: Manipulation des Sozialen, aber Marie fand das zu hölzern, um es mit ihrem schönen Gehirn erinnern zu wollen). Es war auch egal, weil er es ja nicht sagte. Stattdessen sagte er:

Die legen sich direkt neben uns.

Übrigens hat der Typ Johanna ein Kind gemacht.

Kinder dürfen immer so tun, als ob sie ein Recht hätten, hier zu sein.

Johanna ist über Dreißig, da meldet sich die Biologie.

Die schreien rum.

Jan zeigte auf die Zwillinge, die sich gegenseitig vom Wasser fernhielten, während der Vater den roten Sonnenschirm in unmittelbarer Nähe aufspannte und hin und wieder Worte der Beschwichtigung rief, nicht leiser als seine schlecht erzogenen Jungen – zugegeben, Marie fand sie auch nicht super süß, aber sie fand schon, dass Kinder ein Recht hatten, hier zu sein.

Gebären gehört halt dazu.

Marie fühlte sich, als Jan aufsprang, an ihren ‚alten Herren’ erinnert, an dessen cholerischen Ausruf Nie hat man seine Ruhe, wobei Jan besser aussah. Die Wodka-Cola spritzte lustig aus dem fallenden Glas, er hatte Muskeln und war schnell, auch mit Vierzig noch. Während er sprang, oder vielleicht auch schon davor, schmolzen das graugrüne Wasser und das Schilf am Horizont zu einer drohenden Masse. Lebendig und mörderisch, hätte man es hören können, brodeln, rotzen, röhren. Die Masse bewegte sich auf sie zu. Der Hubschrauber der Geschichte nahm Kurs auf, raketenschwer, der grausame Arm des Schicksals – zu ihrem Glück oder Unglück konnte Marie das gar nicht sehen, sie hörte auch nicht die Rotoren, die ganze protzige Show am Himmel entging ihr, sie starrte immer noch auf die Tropfen des von Jans Raubtiersprung spektakulär durch die Luft geschleuderten Longdrinks im Sand. Er ist einfach niemand, den man lieben kann, wunderte sie sich.

Pechschwarze Nacht. Eine Landstraße. Am Straßenrand erbrach sich ein Besoffener. Niemand in dem nach Fleisch und Rauch riechenden Lokal, aus dem der Alte nach Hause wankte, gab einen fliegenden Furz auf seinen Zustand, wo er gerade war, wie er sich fühlte in dieser schwarzen Nacht, obwohl sie jeden Abend zusammen tranken. Der Alte zitterte, durch die zerlöcherten Schleimhäute drang Herbstgeruch, nasses Laub, Pilze, Cognac. Die Felder waren matschig, das Geheimnis der Existenz unergründlich – gerade hier, auf einer Holsteinischen Landstraße, die, zwanzig Jahre bevor Jan am Bernsteinsee auf die kreischenden Zwillinge zuschoss, zum Schauplatz eines ungeklärten Mordes wurde.

Der Lichtkegel, den die Scheinwerfer des Ford Escort in einiger Entfernung auf die dunkle Landstraße zeichneten, war in Ordnung. Er entsprach den gesetzlichen Bestimmungen. Einfach gesagt: Er blendete die entgegenkommenden Fahrzeuge und Fußgänger nicht über Gebühr. Wenn im Kofferraum schwere Lasten transportiert wurden, musste man die Einstellung der Scheinwerfer ändern. Es lag nichts im Kofferraum, das Auto war aufgeräumt, kein Abfall auf dem Boden, keine Flecken auf den Sitzen. Es gab eigenhändig installiertes, blaues Armaturlicht. Das Fenster auf der Fahrerseite wurde einen Spalt runtergekurbelt, damit der Rauch abzog, die Asche kam in den Aschenbecher. Wenn man aus dem Fenster aschte, wurde der Lack beschädigt.

Man könnte sagen, dass der zwanzigjährige Fahrer zu schnell unterwegs war, könnte die nasse Fahrbahn und seine Unerfahrenheit ins Feld führen, aber das war Unsinn. Besser als er konnte man sich gar nicht mit Auto, Fahrbahn und Geschwindigkeit auskennen, und wer sein Auto liebt, will es nicht zu Schrott fahren und wer auf dem Land wohnt, muss sein Auto lieben, weil er sonst für immer da bleibt, in der Kuhpisse sozialer Marktwirtschaft, im Schoß der Familie oder an ehrwürdige Alleebäume gekrüppelt, die noch Landvogte und Nazis hatten vorbei latschen sehen. Im fünften Gang, mit fünfundachtzig Stundenkilometern, näherte sich der Wagen dem kranken Mann, dem gewalttätigen Alkoholiker. Der Lichtkegel erfasste ihn, als er mit der Hand vom Baum abrutschte, einen spastischen Schritt seitwärts machte und auf die Straße taumelte. Es gab keinen Nebel, die Scheinwerfer waren richtig eingestellt, und der Fahrer konnte den auf die Straße fallenden Mann nicht nur sehen, sondern auch erkennen. Er schaltete in den vierten Gang und bremste, schon kam er von achtzig auf fünfzig, im Licht sah er die entgrenzten Gesichtszüge, die eine Mutter ins Grab gebracht hatten, die hässliche Fratze des Gewaltvaters. Der Junge verringerte weiter die Geschwindigkeit, um zu vermeiden, dass am Auto etwas kaputt ging. Der Alte blickte nicht einmal auf, als die Scheinwerfer nur wenige Meter von ihm entfernt waren und der Fahrer voll auf die Bremse trat. Die glücklicherweise weit nach oben gezogene Stoßstange des Escort traf den Kopf des Alten, so dass die Motorhaube nicht beschädigt wurde. Jan spürte den Aufprall im Körper wie ein starkes Nicken.

Wenige Stunden später starb der Alte im Krankenhaus.

Der Polizist, der Jan vernahm, fand es höchst unwahrscheinlich, dass der besoffene Vater ausgerechnet vor das Auto seines eigenen Sohnes taumelte. Jan war sehr ehrlich, sagte, dass er seinen Vater nicht geliebt habe und dass er nicht traurig sei, nur geschockt. Sein Vater habe ihn bis aufs Blut geschlagen, da könne er nicht mehr heulen. Er zeigte dem Polizisten sogar noch die Narben auf dem Rücken, die von Gürtelschnallen und Schlimmerem herrührten.

Der Polizist verstand Jan. Er glaubte ihm, dass er seinen kranken Vater nicht hatte umbringen wollen. Am Unfallort deutete nichts auf Fehlverhalten hin. Was sollte man anderes tun als bremsen, wenn ein durch den Alkohol gehbehinderter Krüppel mit 3,8 Promille auf dunkler Landstraße vors Auto torkelte? Die Bremsspuren zeigten, dass Jan nicht zu schnell gefahren war, eher zu langsam. Und niemand verspürte den Wunsch, den jungen Mann ins Kreuzverhör zu nehmen, zumal vor wenigen Wochen schon einmal ein Typ aus dem besagten Lokal einen Unfall provoziert hatte.

Wieder im Auto, wunderte sich Jan, dass es nicht besser wurde. Er fühlte sich nicht besser, auch nicht am nächsten Morgen, auch nicht zwanzig Jahre später. Jan hatte nie in den Spiegel kucken können, die alptraumhafte Wahrheit, dass er es auch nicht konnte, nachdem er seinen Vater getötet hatte, trug dazu bei, dass er es niemandem erzählte.

Die Wodka-Cola-Tropfen versickern im Sand. Er ist niemand, den man lieben kann. Marie sieht, wie Jan beide Jungs mit der einen Hand angelt und mit der anderen Sandmatsch in ihre schreienden Mäuler stopft, plötzlich steht Marie vorm inneren Auge wieder in der Postfiliale, letzte Woche, in der Schlange vor ihr ein Junge, der nach Armut riecht und dumm und laut die gesamte Filiale nervt, Marie will ihn tot trampeln, aber weil man das nicht macht, lächelt sie und verdreht die Augen, später schämt sie sich. Der dicke Vater ist bei Jan angelangt und versucht sehr ungeschickt, ihn von den Jungs wegzureißen. Jan haut ihm – Marie zuckt selbst zurück, so schnell geht das – mit der Faust zweimal ins Gesicht, ein Geräusch wie Pudding, der auf einen Teller klatscht.

Wir sind Kleinfamilien-Agent-Orange, du Arschvater, schrie Jan. Wir wollen keine dicken lauten Menschen! Marie versuchte einzuwenden – was wollte sie einwenden? Der Papa heulte mit seinen Buben um die Wette, und als Jan sie endlich losließ, sank Papa auf die Knie, wirklich, jetzt kam es Marie unbewusst so vor, als ob sie ein Hubschrauber sei, der Gift abwarf. Die Vater-Schultern zuckten, er presste seine verschmierten Kinder erleichtert an sich, Marie war froh, dass Jan zu ihrem Platz zurückkam, ihr war übel geworden, sie schämte sich, sie musste die Sachen packen.

Das war mal wieder zu doll, sagte sie mit fester Stimme. Obwohl sie Jan wirklich anschauen musste, als ob er nicht mehr als ein Dreckshaufen war, schrammte er zum Glück knapp am Heulen vorbei, blinzelte nur wässrig, gut dreißig Grad am Strand, Marie vermutete, dass Jan in diesem Moment am besten spürte, dass niemand ihn liebte. Schnell teilten sie sich eine Wodka-Cola, Jan schüttelte sein Handtuch aus und machte noch einen Drink für den Rückweg. Die Lust, am Strand zu liegen war ihnen natürlich vergangen, weil die anderen Leute das mitgekriegt hatten und sich einmischten. Es stellte sich heraus, dass der vorsichtig in ihre Richtung gestikulierende ‚Papa’ gar nicht der Vater der Jungen war, sondern ihr Betreuer aus dem nahen SOS-Kinderdorf. Je mehr Ausflügler auf die Sache aufmerksam wurden, desto lauter redete der Mann. Immer wieder hörte man das Wort Polizei. Nicht, dass jemand nach Jans Arm griff und ihn festhalten wollte, war ja kaum etwas passiert, dem dicken Mann blutete nicht mal die Nase, und der Sand aus den Kindermäulern war schneller wieder rausgewaschen, als die Tränen trocknen konnten.

So seltsam fühlte sich abends der Sex an, dass Marie nicht wusste, ob sie tolerant oder einfach nur müde war. Jan vögelte sie in den Schlaf, so hart er konnte. Sie träumte: Auf der Berlinale ‚oben ohne’ Gold holen, und dass wenigstens Gott Jan liebt, wenn sie es schon nicht kann. Es war ihr Unglück, dass sie Jan nicht mit kindlicher Naivität fragen konnte: Warum kann man dich nicht lieben? Das war eine schlecht eingerichtete Sache auf der Erde, dass man so etwas nicht fragen konnte, ohne sich selbst unmöglich zu machen. Das Schlafzimmer roch nach frischer Farbe, das Bett warm und schön, es passte zu Maries Körper, auch zu Jan, obwohl selbst das Bett ihm böse war, weshalb er nicht schlafen konnte. Jan träumte nur selten, aber dann schlimme Sachen. Er schmeckte seine pelzige Alkoholzunge und dachte, dass niemand eine Frau heiraten sollte, mit deren Mutter er nicht tanzen mag, und dass er schon viele schöne Dinge erlebt hatte, aber leider nicht so oft.


*Die Hubschrauber der Geschichte sind das, was vor oder nach Walter Benjamins Engel der Geschichte und Heiner Müllers Glücklosem Engel kommt – mit Motor und Film und Leben, mit eigenständig wirksamem Antrieb. Die Engel schauen zu, die Hubschrauber fliegen rein ins Ereignis und verändern es schicksalhaft. Das Ereignis – Jans Mord an seinem Vater, den er niemandem gebeichtet hat – ist im undenkbarsten Sinne mein eignes Erlebnis, aber auch eines der Literatur, erfunden mit Friedrich Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre und David Foster Wallace’ Girl with Curious Hair (die Story im gleichnamigen Erzählband).

Nach oben scrollen