Kind und Mythos
Ein Blick ins Leben von Ralf Winkler aka A. R. Penck
Der Weg von der Oskar-Mai-Strasse im Westen Dresdens zum nordöstlich gelegenen Schloss Pillnitz führt durch die kaputte Innenstadt. Man fährt mit der Straßenbahn ins Zentrum und steigt dann um. Für den Jungen, der bei so einem Ausflug 1946 durchs Bahnfenster schaut, sind die Ruinen normal, auf dem Weg nach Pillnitz geht er nur an der Hand der Mutter, wenn er sich danach fühlt. Sticht ihn der Hafer, rast er voraus. Er ist sieben, hineingewachsen in das Chaos des erst vor Jahresfrist beendeten Zweiten Weltkriegs. Der Magen knurrt, die Welt riecht nach Brand und Moder, die Welt ist ein Abenteuer, auch draußen beim Schloss, obwohl dort alles heiler ist als in der Innenstadt, grün und freundlich.
Im Bergpalais werden übergangsweise Gemälde neuerer Meister gezeigt. Die Mutter, eine Lehrerin, will ihren Sohn einmal hindurchführen, ohne selbst viel von Kunst zu erwarten. Doch wundersamerweise entdeckt der Junge in dieser prächtigen heilen Welt ein Bild, das sich mit seiner Erinnerung an den Bombenangriff auf Dresden verbindet, den er, fünfjährig, in einer Februarnacht 1945 von der Wiese vorm Elternhaus beobachtet hat. Wie gebannt steht er jetzt vor Arnold Böcklins Gemälde Der Krieg (1896), beäugt die apokalyptischen Reiter, ihr schauriges Spektakel über einer brennenden Stadt: irre Blicke auf gehetzten fliegenden Pferden, todbleiche Gesichter, Knochengerippe, Schlangen im Haar …
Die Museumsdirektorin Gertrud Rudloff-Hille rümpft über dieses Bild wenige Jahre später im Gemäldeführer die Nase, weil es „in seiner Theatralik heute schwer zugänglich“ sei. In der nüchternen Nachkriegszeit, gerade im sozialistischen Dresden, in diesen grauen Jahren, ist mit dem Wort Theatralik schlimmste Anklage erhoben. Für den Jungen hingegen ist die theaterhafte Fremdheit Böcklins gerade das Realistische, Zugängliche.
Für ihn waren die brennenden Körper, das Leid, das der Feuersturm im wirklichen Krieg anrichtete, nicht verständlich, es war ein mythischer Augenblick: Er hat eine vom Himmel herabstoßende Macht gesehen, einen Drachen, einen wütenden Gott, Flugzeugstaffeln. Dem Kind ist das alles gleich, es staunt nur über dieses Etwas, das die Nacht entflammen kann. Wer solche Macht hat, lässt natürlich auch Pferde und Gerippe fliegen …
Später erst versteht der Junge, wie viele Menschen damals gestorben sind, dass es kein Abenteuer sondern das größte deutsche Unglück gewesen ist, verursacht durch die Nazis – das hämmert ihm auch sein kommunistischer Großvater ein. Doch jetzt sieht der Bub hier in Pillnitz die fürchterlichen Fratzen der Apokalypse. Er wird dadurch klüger, ohne das Mythische zu vergessen. Ähnliches geschieht, als er kurz darauf in frisch gedruckten Nachkriegsbüchern Dürers Stich Ritter, Tod und Teufel entdeckt. Wirklichkeit und Mythos verknüpfen? Genau das lernt der Junge von Kunst.
Er ahnt nicht, dass er später selbst in die Dresdner Gemäldesammlung eingehen wird. Er nimmt in diesem Alter nicht einmal die Kunst an sich wahr, die apokalyptischen Reiter haben ihn, wie er später erinnert, „nicht als Bild, sondern als Gleichnis für das brennende Dresden“ fasziniert. Viel erzählt er nicht von seiner Kindheit, aber manchmal ist er dabei sehr präzise, dieser A. R. Penck!
Doch was heißt präzise? In dieser frühesten Geschichte, die Ralf Winkler alias A. R. Penck über sich selbst erzählt, zeigt sich ein lebensbestimmender Wesenszug: Schon als Kind neigt er dazu, Wirklichkeit, Mythos und Kunst zu überblenden. Hier der Bombenkrieg, dort ein Gemälde und dann die biblische Geschichte von den vier apokalyptischen Reitern, die das Verderben bringen. Diese riesigen Felder fallen in der persönlichen Erfahrung augenblicklich zusammen.
Penck wird nie zum Mythos-Forscher, er bleibt Genießer und Anwender. Denn die Wirklichkeit, die er ergründen will, ist zwar von Kindheit an bestimmend und stets Ausgangspunkt seiner Arbeit. Aber sie bleibt auch geheimnisvoll und rätselhaft. Mit jedem denkbaren Werkzeug rückt er ihr zu Leibe, mit Wissenschaft, Logik, Poesie und vor allem mit Kunst. Dieser Realitätssinn hebt ihn von vielen Autonomieästheten ab, die der Nachkriegszeit einen neuen formalen Moderne-Schock verpassen, jedoch mehr oder weniger nur die Welt der Kunst anerkennen. Penck hat Hunger auf Wirklichkeit, doch ist er kein Realist. Er treibt den Stil bis zum Äußersten, weil er die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern beeinflussen will. Er will sie bezaubern, verhexen, durch Signale steuern. Das wird für ihn, um es vorwegzunehmen, extrem gefährlich. Denn zwar mag auch im Westen der Begriff Formalismus hier und da als Schimpfwort verwendet werden, doch in der DDR, wo Penck zum Künstler wird, hat das Wort die Wirkung eines sozialen Todesurteils.
ABBILDUNG Arnold Böcklins Der Krieg (1896), Albertinum, Dresden
Keine Biografie kommt ohne die Suche nach dem Kind aus, das zu etwas Großem heranwächst. Biografien romantisieren, im ganz banalen Wortsinne. Sie sind wenn nicht heldenverehrende, dann Helden befragende Bücher. Sie schreiben die Geschichte der Großen, im Falle der Künstlerbiografie auch die des „schönsten Genius“ – siehe die allererste kritische Künstlermonografie, Passavants Raffael-Buch vom Anfang des 19. Jahrhunderts sowie eine der vielen nachfolgenden Raffael-Viten: „Von Raffael werden die Menschen immer wissen wollen. Von dem jungen schönen Maler, der alle anderen übertraf.“ Mit diesem „immer“ hat man früher die Ewigkeit des Genies behaupten dürfen. Heute gilt eher: „Geschichte ist das, was von der Zeit handelt, ohne die Ewigkeit.“ Doch auch im 20. und 21. Jahrhundert muss man Geschichte und Zeit überlisten, um groß zu werden. Penck jedenfalls schafft das als Künstler: Er macht vor, wie man gleichzeitig im Untergrund (Osten) und ganz oben (Westen) sein kann. Er zeigt, wie man aus dem Hintergrund kommend stilbestimmend wird.
Es ist schwer, in der Zeit zurückspringen und den rundköpfigen glutäugigen Ralf auszugraben, geboren am 5. Oktober 1939, der Böcklin und Dürer bewundert, ohne Vater aufwächst und schon früh weiß: „Ich bin Künstler.“ Die ungeheure Energie, mit der seine Schaffenskraft nach vorne explodiert und die ihn zu Penck machen wird, lässt sich kaum wieder zurückdrehen. Man will den Jungen kennenlernen, weil man den Künstler bereits schätzt. So mögen in seiner Kindheit weiterhin biografische Geheimnisse unerkannt schlummern, geheime und weniger geheime Momente, die Penck zu dem gemacht haben, was er ist. Doch sagt er selbst: „Ich glaube nicht, dass der Anfang so wichtig ist.“ Tatsächlich beginnt seine eigentliche künstlerischer Arbeit erst Mitte der 1950er, als Teenager, und sein stilistischer Durchbruch gelingt um 1960, als junger Erwachsener. An diesen Punkt zu gelangen hat er sich beeilt, und diese Kunstbiografie wird ihm das nachtun.
Dabei verkörpern die Stimmen seiner Weggefährten und Freunde eine Suchbewegung, die nie zu Kreisen aufhört. check, ändern: das ist ein Tanz um die eine unbekannte Größe … das mit der unbekannten Größe hier schon kommen lassen … Sie alle dürfen und sollen Auftreten in dieser biografischen Erzählung, denn sie zeigen, wo Penck herkommt. Vor allem jedoch verkörpern sie, was er nicht geworden ist. Baselitz, der Weltstar, neben Peter Makolies, einer stillen Dresdner Bildhauer-Institution. Ileana Sonnabend, die längst verstorbene New Yorker Top-Galeristinnen neben der lässig schlauen Kölner Kunsthändlerin Brigitte Schenk. Und ihnen gegenüber Pencks legendärer Haupt-Galerist Michael Werner – genau zwischen ihnen allen, irgendwo dort in der Mitte, weilt der Geist des Malers.
Ihre und die Aussagen vieler anderer Gefährten stehen oft in direkter Rede, denn der Leser darf hie und da selbst zu entscheiden wagen, wo Pencks Wahrheit aufhört und die Dichtung der Nachwelt beginnt, wo künstlerischer Mythos alles andere überwuchert und an welcher Stelle man Wirklichkeit durchscheinen sieht. Dass da enorm viel Spielraum bleibt, liegt nicht nur daran, dass Penck verstorben ist, bevor der Autor mit ihm sprechen konnte. Denn Penck hat schon viel früher dafür gesorgt, das sein Leben selbst intimen Kennern rätselhaft bleibt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat er sich mit konkreten Äußerungen zu seiner Biografie und seinem Werk zurückgehalten, das allein ist nicht unüblich für einen Künstler. Nur kommt bei Penck hinzu, dass sein Lebensweg unruhig verläuft, im Zickzack, teils auch im Verborgenen und dass er auf zwei Deutschlands verteilt ist. Zudem hat es niemanden gegeben, der stets dabei war, weder eine Frau noch ein Geschwisterkind oder einen Assistenten. Forschungsstellen oder Archive existieren ebenfalls nicht. Obwohl Penck der Maler des Informationszeitalters ist, wirkt die biografische Überlieferung bei ihm unwesentlich schlüssiger als bei einem Renaissancemeister wie Giambologna. Sicher, viele können ein Geschichtlein zu Penck erzählen: Wie er einmal, rohen Knoblauch mampfend, Museumsmitarbeiter aus der kuratorischen Besprechung vertreibt; wie er mit vollen Händen Bargeld aus der Tasche zieht und befreundeten Künstler zuwirft; wie er trinkt, flirtet, malt, wie lustig er sein kann. Wütend! Klug! Verstockt! Wie er zwischen den Welten wandert, Konzepte und Pseudonyme ausatmet wie Luft … Penck hat (soweit bekannt) keine tausendseitigen Tagebuchaufzeichnungen in petto wie Warhol, hat keine unüberschaubare, alles notierende Jünger- und Schülerschar angezogen wie Beuys. Bei Penck stutzt man schon bei der Frage, wie man ihn denn nun nennen soll: Ralf Winkler, Penck, Mike Hammer, T.M. (Tancred Mitchel/Theodor Marx) oder Ypsilon? Im Westen ruft ihn kaum jemand Winkler, wohingegen in seiner alten östlichen Heimat der Künstlername Penck teils so hingesagt wird, als sei das eine überkandidelte Erfindung, die mit dem echten Menschen nichts zu tun hat – was nun überhaupt nicht zutrifft. Jedenfalls sorgen solche und andere Verwirrungen dafür, dass man stets mit einer unbekannten Größe konfrontiert ist. Das titelbildende Wortspiel balanciert zwischen mathematisch Unbekanntem und Genieverdacht. Nur Penck beleidigt man mit so einem ambivalenten Titel nicht, sondern feiert ihn. Für viele Leute, die den Künstler als punkiges Raubein, als Widerständler, als Chaot, als selbstbewusst auftreten Star kennengelernt haben, mag es komisch klingen: Aber alles in allem ist Penck ein Meister der Balance. Er hätte viel berühmter werden, hätte von der sozialistischen Diktatur in Grund und Boden gerammt werden können. Beidem ist er geschickt ausgewichen. Er hat die Balance gehalten, um mehr oder weniger immer genau dort zu verweilen, wo seine Kunst entsteht.
Zitatnachweise und verwendete Literatur:
Penck im Interview mit Gachnang, Luzerner Kunstnachrichten, 11. Jahrgang, Heft 1, 1974, S. 147.
Gemäldegalerie Dresden, Abteilung 19. und 20. Jahrhundert im Schloß Pillnitz. Dresden 1957, S. 9.
Siehe Penck im Interview mit Gachnang, Luzerner Kunstnachrichten, 11. Jahrgang, Heft 1, 1974, S. 147.
Hermann Grimm, Das Leben Raphael’s. Berlin 1896 (dritte Auflage), S. 1.
Alain Badiou, in einem Gespräch mit Bruno Bosteels, in: Inaesthetik, Nr. 0, Juni 2008, S. 50.
Pencks Interview mit Eddy Devolder, muss ich dann nach Rites de Passage. Köln 2017 (Ausstellungskatalog) zitieren, check.
Pencks Interview mit Grasskamp, in: Ursprung und Vision: Neue deutsche Malerei. Berlin 1984 (Ausstellungskatalog), S. 152.
Vorbildbücher für dieses docufictionhafte Vorgehen etwa: Ateliergespräche von Henry Schumann, Der Antisemitismus von Hermann Bahr.
Einige Ausnahmen: Devolder, Grasskamp, Dickhoff.